Temperament: Sensitiv und selbstsicher?
In biographischen Schilderungen und Fallberichten wird häufig ein eher spektakuläres Bild der Persönlichkeit hochbegabten Personen gezeichnet: wenig angepasst, emotional instabil, verhaltensauffällig. In diesem Zusammenhang fallen in der Hochbegabtenforschung zwei gegensätzliche Standpunkte auf: Vertreter der Annahme eines „hohen Verletzlichkeitsrisikos bei Hochbegabten“ gehen davon aus, dass alle Hochbegabten Schwierigkeiten und Probleme erleben, d. h. deutlich stärker psychisch verletzlich sind als andere Kinder.
Hingegen schreiben Vertreter einer „Unverwundbarkeitsthese“ Hoch begabten eine höhere psychische Stabilität und größere seelische Gesundheit bei einem geringeren Ausmaß; an Störungen und Verhaltensauffälligkeiten zu. Forscher, die mit größeren Stichproben und Vergleichsgruppen arbeiteten, kommen bei der Bewertung ihrer Daten eher zu dem Schluss, dass es kaum oder nur sehr geringe Unterschiede im Bereich des Temperaments zwischen Hochbegabten und Nicht-Hochbegabten gibt. Diese Uneinheitlichkeit der Erkenntnisse führt nicht nur zu Verunsicherung von Eltern, die beispielsweise wissen wollen, ob ihr Kind zu der Gruppe der Hochbegabten gehört. Sie kann auch zu möglichen Fehleinschätzungen und falschen Vorstellungen bei Lehrern und anderen Personen führen, die sich mit hochbegabten Kindern befassen.
Mit Temperament wird der Bereich der Persönlichkeit bezeichnet, der im Sinne eines „Verhaltensstils“ das „Wie“ oder auch die „Farbe“ des Verhaltens bestimmt. Dabei fallen die Temperamentsmerkmale bei einigen, verglichen mit zweieiigen Zwillingen deutlich ähnlicher aus. Sie bleiben über die Lebenspanne relativ stabil und über verschiedene Situationen hinweg relativ konsistent. Temperament, das als ererbte und angeborene Verhaltensdisposition angesehen wird, unterliegt auch Umwelteinflüssen, insbesondere elterlichem Vorbild und Sozialisation. Thomas und Chess unterscheiden neun Temperamentsdimensionen, die Unterschiede im Verhaltensstil Neu- geborener zu erkennen gestatten: Aktivität, Rhythmizität, Annäherung/Rückzug, Anpassungsvermögen, Sensorische Reizschwelle, Stimmungslage, Intensität, Ablenkbarkeit und Ausdauer (Persistenz).
Alle Temperamentsausprägungen sind als natürliche Variation innerhalb normaler Grenzen des Verhaltens anzusehen. Selbst eine sehr hohe Aktivität oder sehr niedrige Reizschwelle wären danach kein Anzeichen für eine pathologische Entwicklung. Erste Hinweise über einen möglichen Zusammenhang von intellektueller Hochbegabung und Temperamentsvariablen, geben psychologische Befunde der Temperamentsforschung. Lässt man die schwer zu interpretierenden Säuglingsstudien Außer acht, finden sich bei drei- bis zwölfjährigen Kindern in den Bereichen Aufmerksamkeit (Persistenz), Annäherung/ Vermeidung sowie Anpassung am ehesten positive Zusammenhänge.